I: Häusermann: Nikolka. Niklaus von Steiger – eine bernischrussische Familienodyssee

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Titel
Nikolka. Niklaus von Steiger – eine bernischrussische Familienodyssee


Autor(en)
Inga, Häusermann
Erschienen
Zürich 2021: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
284 S.
von
Daniel Weber

Die Berner Autorin Inga Häusermann nimmt ihre Leserinnen und Leser in «Nikolka» mit auf eine historisch-literarische Zeitreise durch die Geschichte der Berner Patrizierfamilie von Steiger. Im Zentrum steht die ungewöhnliche Lebensgeschichte von Niklaus von Steiger (1933 – 2019). Der Bernburger mit russischen Wurzeln, Sohn von Wladimir von Steiger und der gebürtigen Russin Walentina Sorokina, verbrachte nach dem Tod des Vaters einige Jahre seiner Jugend im burgerlichen Waisenhaus am Bahnhofplatz, arbeitete später als Bankangestellter in Genf, London und Bern und engagierte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren aktiv in der Berner Nonkonformisten-Szene. Gemeinsam mit seinem Cousin Sergius Golowin, dem Künstler Franz Gertsch und dem Reformpädagogen Zeno Zürcher gehörte er zu den Gründern der legendären «Junkere 37», die ab 1964 philosophische und literarische Lesungen und Vorträge in einem Altstadtkeller in der Junkerngasse veranstaltete.

Die von Häusermann detailreich aufgezeichnete Familiengeschichte umfasst nahezu vier Jahrhunderte und geht zurück bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und zu Christoph von Steiger, Berner Schultheiss und Angehöriger des Patriziats, das damals den Staat Bern prägte und politisch dominierte. Die «Familienodyssee» der von Steigers führt vom vormodernen Bern ins russische Zarenreich und über Odessa und Konstantinopel im Osmanischen Reich wieder zurück nach Bern. 1822 wanderte Niklaus’ Vorfahre Rudolf von Steiger mit Frau und sieben Kindern nach St. Petersburg aus und profilierte sich dort als Gutsverwalter und kaiserlicher Hofrat. Es gelang der Familie, sich im zaristischen Reich des 19. Jahrhunderts zu etablieren: Die Nachkommen von Rudolf gelangten in einflussreiche Stellungen in Wirtschaft, Verwaltung und Militär, waren als Teil der Herrschaftselite in bedeutenden Zentren wie St. Petersburg und Konstantinopel präsent und verfügten über entsprechendes Vermögen.

Der Aufstieg und der Erfolg der Familie von Steiger nahmen mit der Oktoberrevolution und der Machtübernahme der Bolschewisten ein Ende. 1928 kehrten Wladimir und Walentina nach Jahren der Flucht verarmt zurück nach Bern, wo schliesslich 1933 Sohn Niklaus geboren wurde. Er wuchs auf als Teil der russischen Exilgemeinde in Bern, blieb der russischen Tradition und dem orthodoxen Glauben eng verbunden und bekam in der Schulzeit auch die antisowjetischen Ressentiments jener Zeit zu spüren. Auch sein späteres Engagement als Nonkonformist wurde kritisch betrachtet. Die Mitglieder der «Junkere 37» träumten davon, die Welt zu verändern und aus den bürgerlichen Konventionen auszubrechen, diskutierten nächtelang über Politik und Literatur und luden neben Autoren wie Friedrich Dürrenmatt und Peter Bichsel auch politisch links stehende Referenten zu ihren Veranstaltungen ein. Dies war im ausgesprochen kulturkonservativen Klima der Schweizer Nachkriegsjahrzehnte höchst suspekt, entsprechend wurden von Steiger und weitere Mitglieder der «Junkere 37» als Kommunisten verdächtigt und vom Staatsschutz überwacht.

Autorin Inga Häusermann trat bisher vorwiegend als bildende Künstlerin in Erscheinung. Die 51-jährige Oberaargauerin malt, zeichnet und modelliert als freischaffende Künstlerin in Biel und Brüssel und ist auch als Lektorin tätig. Sie wählt einen literarisch-dokumentarischen Zugang zu ihrem Stoff und beschreibt die Geschichte der von Steigers aus den wechselnden Perspektiven der Erzählerin und der betroffenen Akteure. Als Grundlage dienen ihr dabei persönliche Aufzeichnungen, Briefe und zahlreiche Gespräche mit Familienmitgliedern und Weggefährten. Wichtigste Quelle für Häusermann sind die Lebenserinnerungen von Niklaus von Steiger selbst, die er der Autorin auf langen Spaziergängen in den Monaten vor seinem Tod im Januar 2019 ausführlich erzählte. Die Beschreibung eines solchen gemeinsamen Spaziergangs bildet auch den dramaturgischen Rahmen der Familiengeschichte: Auf ihrem Weg durch die Berner Altstadt machen die beiden Halt an zahlreichen Orten der Erinnerung, wo Niklaus von Steiger die wichtigsten Stationen seines Lebens Revue passieren lässt.

In den Erinnerungen von Niklaus von Steiger vermischen sich bisweilen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Traum gehen ineinander über. Die Verbindung von historischen Fakten und Fiktion, von persönlichen Erinnerungen und Bildern mit realen Tatsachenberichten charakterisiert die gesamte Erzählung. Dies ist manchmal verwirrend, oft aber auch anregend, wenn die Autorin die Erlebnisse und die Gefühlslage ihrer Akteurinnen und Akteure anschaulich beschreibt. Darüber hinaus baut sie fiktionale Elemente ein wie das imaginäre Fest aller Ahnen mit den noch lebenden Familienmitgliedern, das den dramatischen Schlusspunkt von «Nikolka» bildet. Allerdings wirkt dies nicht immer gelungen, stattdessen hätte man sich da und dort eine stärkere wissenschaftliche Expertise und eine kritische Betrachtung und Einordnung des Quellenmaterials gewünscht. Dies tut dem Lesevergnügen aber insgesamt keinen Abbruch, zumal auch die Illustration des Buchs mit historischen Fotos am Ende jedes Kapitels sehr gut gelungen ist. Informativ und hilfreich ist ausserdem der Stammbaum im Anhang, der es ermöglicht, sich in Zeit und Raum der weitverzweigten Familie von Steiger zu orientieren.

Zitierweise:
Weber, Daniel: Rezension zu: Inga, Häusermann: Nikolka. Niklaus von Steiger – eine bernischrussische Familienodyssee. Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 4, 2022, S. 66-67.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 84 Nr. 4, 2022, S. 66-67.

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